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Wilhelm und sein Tiras - Eine Hundegeschichte aus dem Jahr 1827

Wilhelm und sein Tiras.

Eines Tages, als Wilhelm nach der Schule gehen wollte, sah er einen jungen Pudel vor der Hausthür liegen, der ausgesetzt zu seyn schien, und dessen sich niemand erbarmen wollte. Das arme kleine Thier hatte offenbar schon lange Hunger gelitten, und konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Wilhelm hatte viel von der Treue und Dankbarkeit der Pudelhunde gehört und gelesen, und es ging ihm zu Herzen, daß der kleine Hund, der freilich sehr häßlich war, aber doch so ehrliche Augen hatte, kläglich umkommen sollte. Er nahm ihn daher mitleidig auf seinen Arm, und brachte ihn der Mutter mit der Bitte: erbarme dich doch dieses armen Thieres, liebe Mutter, und gieb ihm ein wenig Semmel und Milch; er lag vor unserer Thür, und darum müssen wir uns wohl seiner annehmen. Ein treuer Haushund ist doch nicht zu verachten, und schützt oft besser, als Schloß und Riegel.

Wilhelms Schwester Marie kam dazu, und bat auch, und die Mutter ließ sich leicht bewegen, den kleinen vierfüßigen Kostgänger in's Haus zu nehmen. Er wurde Tiras genannt, und erholte sich sehr bald, so daß er schon am folgenden Tage lustig umher sprang, und ein ziemlich lautes Bellen hören ließ. Da ihn Wilhelm am meisten pflegte, so war er diesem vorzüglich zugethan, und folgte ihm auf jedem Schritte. Dieser wußte sich nicht wenig damit, daß er nun einen eigenen Hund hatte, und wenigstens in Ansehung des gehorsamen Tiras den Herrn spielen konnte. Da aber das Thier sehr schnell wuchs, und üble Ausdünstungen hatte, so durfte Wilhelm seinen Tiras niemals in die Stube bringen; der Hund hatte auf dem Hausflur und auf dem Hofe seinen Platz, und kam höchstens im harten Winter in die Gesindestube, wo man ihn gern duldete, weil er wachsam war, und nichts stehlen ließ.

Marie gab sich viel Mühe, den Tiras abzurichten, und seine Lehrerinn zu werden , und der Hund zeigte gute Anlagen und guten Willen. Sehr bald lernte er etwas herbei holen und tragen, über einen Stock springen, sich auf den Hinterfüßen emporrichten, und Pfotchen geben, auf's Gebot bellen, und auf's Wort unter den Stuhl kriechen, endlich sogar mit den Vorderpfoten die Klinke der Stubenthür niederdrücken, und so sich selbst die Thür öffnen.

Mit der Hauskatze konnte sich aber Tiras gar nicht vertragen, er verfolgte sie überall mit einer wahren Wuth, und ob er gleich oft deshalb Schläge bekam, und gezwungen wurde, neben der Katze in der Stube ganz ruhig zu sitzen, so gewöhnte er sich diese Unart doch nicht ab, und konnte es wenigstens nicht lassen, zu knurren, so oft die Katze sich sehen ließ. Einmal saß er ganz ruhig auf dem Fensterbrett, neben Wilhelm, als die Katze über den Hof lief, und eine Maus jagte. Da gerieth Tiras in eine solche Hitze, daß er von dem hohen Fenster hinuntersprang, und bei diesem Sprunge den einen Vorderfuß zerbrach, so daß er unter dem kläglichsten Geheul in einen Winkel kroch.

Wilhelm trug ihn unter vielem Zureden in die Stube; aber Marie hielt ihm eine lange Strafrede, und schalt ihn tüchtig wegen seiner Unbesonnenheit, als ob sie gewiß wüßte, daß der Hund jedes Wort verstehen könne. Wilhelm lachte sie deshalb aus, und sagte: »Du könntest wohl etwas Klügeres thun, altkluge Marie, nämlich dem armen Tiras ein weiches Lager machen. Sieh nur, wie kläglich er aussieht, als wollte er sagen: erbarmt euch doch meiner!«

Diese Worte erregten sogleich Mariens Mitleiden, denn sie war sehr weichherzig, und sie that etwas Großes an dem armen Verwundeten, denn sie holte eines ihrer Puppenbettchen herbei, legte eine wollene Decke darüber, und machte ihm ein ordentliches Krankenlager, suchte auch alte Leinwand hervor, damit Wilhelm den zerbrochenen Fuß verbinden könnte, und ließ es sich recht angelegen seyn, den Kranken zu pflegen.

Mariens Pflege wirkte so gut, daß Tiras schon nach acht Tagen ein wenig in der Stube umherhinken konnte, und nach vierzehn Tagen war er wieder ganz auf den Beinen.

Als Wilhelm in der Folge große Lust bezeigte, schwimmen zu lernen, machte Tiras auch im Wasser seinen Begleiter, und nach einigen Monaten konnte es Wilhelm dem Hunde fast gleich thun im Schwimmen, so gute Fortschritte hatte er in dieser Kunst gemacht. Auf einer kleinen Fußreise, die Wilhelm und Gustav mit einander machten, wurde Tiras mitgenommen, und mußte zuweilen den Tornister tragen, in welchem die Wäsche befindlich war.

Eines Tages befreite des Hundes Klugheit und Schnelligkeit Wilhelm von einer großen Angst, und wurde ihm sehr nützlich. Er hatte nämlich im Gehen seine Brieftasche verloren, und bemerkte es nicht eher, als nachdem sie schon eine weite Strecke fortgewandert waren. Wilhelm erschrak nicht wenig, als er sie vermißte, denn es waren einige Briefe darin, und der eine Brief enthielt zwei Dukaten, weswegen ihn auch die Mutter beim Weggehen zu besonderer Vorsicht ermahnte. Ader Wilhelm war zu lebhaft, als daß er hätte vorsichtig und besonnen seyn können, und die Ermahnung der Mutter war bald vergessen.

Was war nun zu thun? Wilhelm fühlte sich so müde, daß es ihm kaum möglich gewesen seyn würde, eine weite Strecke, vielleicht eine halbe Meile, zurück zu gehen, um die verlorne Brieftasche zu suchen, und Gustav versicherte, daß er todtmüde sey; auch war der Abend schon herangekommen, und sie hatten noch eine gute halbe Meile zu wandern, um ihr Nachtquartier zu erreichen. In dieser peinlichen Verlegenheit blieb nichts weiter übrig, als den treuen Tiras abzusenden, und ihn suchen zu lassen. Aber zu solchen Geschäften war er noch niemals gebraucht worden, und es kam also darauf an, ob er in dieser Probe bestehen würde.

Wilhelm gab ihm durch allerlei Gebärden zu verstehen, daß er die Brieftasche verloren habe, rief ihm wiederholt zu: such! verloren! und trieb ihn vor sich her, indem er ihm eine Strecke nachfolgte. Sehr bald wurde der Hund inne, was er thun solle, und jagte davon, indem er sich von Zeit zu Zeit umsah. Bald war er den beiden Knaben völlig aus den Augen gekommen, und sie sahen nicht ohne Herzklopfen seiner Rückkehr entgegen.

Schon fing es an zu dunkeln, und als eine Viertelstunde vergangen war, wurde dem armen Wilhelm sehr bange um's Herz; er machte sich auf, dem treuen Tiras nachzugehen; doch war er noch nicht hundert Schritte gegangen, als er ihn schon in der Ferne keuchen hörte. Nach wenigen Minuten legte er, mit dem Schwanze wedelnd, und fröhlich bellend, die gefundene Brieftasche zu den Füßen seines Herrn nieder, und dieser war hoch entzückt, konnte nicht aufhören, ihn unter allerlei liebkosenden Zurufungen zu streicheln und zu klopfen, und reichte ihm zur Belohnung seines Eifers ein schönes Stück gebratenes Fleisch, das die Mutter ihm mitgegeben hatte.

Ich bin zwar selbst hungrig, sagte er dabei, aber du hast es dir sauer werden lassen, treuer Tiras, darum mußt du essen, und dein Herr muß hungern. Seit dieser Zeit hatte Wilhelm seinen Tiras noch weit mehr lieb, als zuvor, und hielt ihn sehr hoch, und als er nach Hause zurückkam, und dies Probestück der Klugheit und Treue des Hundes erzählte, waren Alle hoch erfreut, am meisten aber Marie, die durch ihre Liebkosungen den Hund so fröhlich machte, daß er wie närrisch und mit einer ordentlichen Ausgelassenheit um sie her sprang. Wilhelm sammelte, seitdem er seinen treuen Tiras besaß, Geschichten von der Treue und Klugheit der Hunde, und wußte auch von seinem Tiras dergleichen zu erzählen, besonders von seiner bewundernswürdigen Fertigkeit, sich überall zurecht zu finden, und jeden Weg sogleich wieder zu erkennen, den er einmal gemacht hatte.

Wenn Wilhelm zuweilen ausging, ohne den Tiras mit zunehmen, so suchte ihn dieser bei allen seinen Bekannten, und selbst vor dem Thore auf einem Spaziergange, den er oft machte, und ließ nicht nach, bis er ihn fand. Einst, als er ihn überall vergebens gesucht hatte, kehrte er nach dem Hause zurück, welches Wilhelm am meisten besuchte, weil dort sein liebster Freund wohnte. Als er hier lange vor der Thür geheult hatte, um einge lassen zu werden, machte er allerlei Versuche, durch Sprünge die Klingel zu erreichen, und endlich gelang es ihm wirklich, den Hand griff der Klingel mit dem Maule zu erwischen, so daß die Glocke gewaltig ertönte. Die Hausthür wurde geöffnet, und wie erstaunte die öffnende Magd, den Tiras zu erblicken, der überaus freundlich mit dem Schwanze wedelte, und sich seines gelungenen Bestrebens zu erfreuen schien.

Eines Abends, als allerlei hübsche Geschichten von verständigen Hunden erzählt wurden, fügte der Vater noch eine hinzu, welche Wilhelm für die beste erklärte, und über die er sich höchlich freute; Wilhelms Vater erzählte: »In einer Kirche der Stadt Zug, welche die Oswaldskirche heißt, sieht man einen Leichenstein, auf welchem ein Mann in Rittertracht abgebildet ist, zu dessen Füßen ein Hund, und dieser Hund verdiente ein Denkmal, denn er wurde durch Klugheit und Treue der Retter seines Herrn, der Caspar von Brandenburg hieß.

Dieser reiste mit seinem Bedienten in der Schweiz über den hohen Gotthardtsberg, und als sie in der Nähe eines Fleckens waren, stürzte plötzlich eine ungeheure Schneemasse vom Gipfel des Berges herab, und verschüttete Beide, so daß sie lebendig begraben waren. Nur der kleine Hund des Verschütteten entging diesem traurigen Schicksale. Als das treue Thier seinen Herrn auf einmal unter der Schneemasse verschwinden sahe, fing es erbärmlich an zu heulen, und strengte alle seine Kräfte an, um den Schnee wegzu kratzen. Doch bald merkte es, daß seine Anstrengung vergeblich war, und lief nun, als ob es sich eines Bessern besonnen hätte, zurück nach einem Kloster, welches auf dem Gotthardt liegt, und in welchem sein Herr die Nacht vorher zugebracht hatte.

Hier bellte und kratzte es so lange an der Thür, bis man ihm aufmachte, und als es die Mönche erblickte, suchte es durch Heulen, Bellen und Schmeicheln, durch Vorwärts - und Zurücklaufen, und auf noch andere Weise sein Anliegen zu erkennen zu geben. Doch die Mönche begriffen des Thieres Gebehrden und Unruhe nicht, bis endlich, nachdem den ganzen Tag hindurch der Hund nicht aufgehört hatte, zu heulen, zu kratzen und zu bellen, und hin und wieder zu laufen, Einige auf den Gedanken kamen, ihn hinauszulassen, und mit ihm zu gehen. Jetzt lief der Hund mit allen Zeichen der Freude vorwärts, sahesich unaufhörlich nach seinen Begleitern um, und führte sie so bis an das Schneegrab seines Herrn. Hier kratzte er mit der größten Emsigkeit in dem Schnee, wedelte freundlich mit dem Schwanze, und erregte sehr bald dadurch in den Mönchen die Vorstellung von dem Unglück, welches sich hier ereignet hatte. Jetzt holten sie eiligst die nöthigen Werkzeuge herbei, gruben mit der größten Anstrengung den Schneehügel auf, und hatten nach mehrstündiger mühseliger Arbeit die Freude, die Verschütteten zu finden, welche bereits 36 Stunden in ihrem Schneegrabe gelegen hatten, aber dennoch Zeichen des Lebens gaben, und sehr bald wieder hergestellt wurden. Sie hatten in unbeschreiblicher Angst das Bellen des Hundes unter dem Schnee vernommen, waren aber nicht im Stande gewesen, ihre Hände frei zu machen, und waren zuletzt in Bewußtlosigkeit versunken.

Auf eine andere Weise wurde ebenfalls ein Hund der Retter seines Herrn aus Feuersgefahr. Dieser hatte nämlich die üble Gewohnheit, Abends im Bette zu lesen. Bisweilen schlief er aber vor Müdigkeit ein, ohne das auf dem Nachttische stehende Licht auszulöschen. Dennoch fand er zu seiner Verwunderung jedes Mal am Morgen, daß das Licht war ausgelöscht worden, und war sich dabei lebhaft bewußt, daß er selbst es nicht gethan habe. Bei genauerer Besichtigung des Lichts bemerkte er, daß es wie mit der Hand niedergedrückt war, und nun kam er auf den Gedanken, daß sein Hund dieß Kunststück gemacht haben könne. Um dieß mit Gewißheit zu erfahren, las er am nächsten Abend wieder im Bette, aber nur eine kurze Zeit, und stellte sich dann, als ob er einge schlafen wäre. Es währte nicht lange, so kam der Hund an das Bett, und gab genau Acht, ob sein Herr auch wirklich schlafe. Da er keine Bewegung an ihm bemerkte, und ihn für fest eingeschlafen hielt, sprang er behende auf den Stuhl, der am Nachttische stand, und vom Stuhl auf den Tisch, hob vorsichtig seine Vorderpfote auf, und drückte mit einer raschen Bewegung das Licht nieder. Als er dieß gethan hatte, stieg er leise wieder herunter, und legte sich auf seine gewöhnliche Schlafstelle. Der Herr er staunte über die Verständigkeit des Hundes, und hatte ihn nun noch einmal so lieb, gab ihm auch am andern Morgen ein vorzüglich gutes Frühstück, um seine Fürsorge zu belohnen. Die Kinder hatten sehr aufmerksam zugehört, und ließen diese schönen Hundegeschichten nicht aus ihrem Gedächtnisse entschlüpfen, sondern erzählten sie andern Kindern, und sammelten noch mehr dergleichen Beispiele von der Klugheit der Hunde.

Quelle: Jucunde: Vierzig neue Erzählungen für Kinder von 6 bis 10 Jahren Friedrich Philipp Wilmsen, 1827

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